Didaktik

Warum wir Digitalität ernst nehmen müssen.

“Kinder und Jugendliche nehmen alle Informationen auf, die sie für relevant und richtig halten - Glaubwürdigkeit der erziehenden Erwachsenen ist also wichtig (Glaubwürdigkeitsprinzip)” (Dollase, Rainer. Gruppen im Elementarbereich, Kohlhammer Verlag: 2015)

  • Wer pädagogischen Einfluss haben will, muss glaubwürdiger als die anderen Quellen sein.
  • Erziehung ist ein Konkurrenzkampf um Glaubwürdigkeit.

Cognitive Theory of Multimedia Learning

Für viele Lehrerinnen und Lehrer ist die Vorstellung der Nutzung digitaler Medien erst einmal die Vorstellung von zusätzlicher Belastung. Das Sich-bewegen-Müssen auf didaktisch und methodisch bisher unergründetem Gebiet ist einer der Gründe, warum es in Deutschland im Vergleich zu z.B. anglophonen und skandinavischen Ländern wenig Einsatz digitaler Lernbegleitung gibt. Bei der Planung des Unterrichts sollte in der Reihenplanung berücksichtigt werden, wann und wo die digitalen Medien neben dem Präsenzunterricht explizit thematisiert und genutzt werden. Für die Schüler ist der Gebrauch digitaler Medien nicht per se selbstverständlich und wird von ihnen nicht akzeptiert, wenn sie nicht ein sinnvoller Bestandteil des Curriculums und des Unterrichts sind. Die Einbettung der digitalen Medien muss folglich in ihrem didaktischen- und methodischen Design einen Mehrwert haben. Im Folgenden soll daher geklärt werden, wie der medial vermittelte Lernzuwachs funktioniert und welche Risiken bestehen. Bei aller noch so oft gehegten Euphorie vieler Didaktiker und Medienpädagogen über die neuen Medien und ihre Möglichkeiten der Kollaboration muss jedoch der Blick geschärft bleiben für die medienpsychologischen Grundlagen – schließlich finden wir in einem medienpädagogisch aufbereiteten Szenario auch nur eine subjektive Theorie über die Wirkungsformen von Medien, die nicht zwangsläufig auf die empirische Wissensbasis zurückgegriffen haben muss. In diesem Sinne muss bei der Ausführung der Unterrichtsplanung multimedialer Szenarien auch auf die Grundlagentheorien wie etwa die Cognitive Theory of Multimedia Learning (CTML) von Mayer (2008) rekurriert werden. Die CTML lässt sich im Grunde auf drei Prinzipien des Lernens zurückführen:

  1. Das Verarbeiten von Informationen funktioniert über zwei Kanäle (dual-channel assumption). Der Mensch beginnt das Verarbeiten (processing) unterschiedlich, je nachdem womit er konfrontiert wird.
    • Visual/pictoral: Illustrationen, Animationen, Video, On-ScreenText.
    • Auditory/verbal: Narration, nonverbale Geräusche. (vgl. Mayer2008, S. 33)
  2. Jeder dieser Kanäle hat eine limitierte Kapazität. (limited capacity assumption)
  3. Aktives Lernen bedeutet, dass ein genau abgestimmtes Set von kognitiven Prozessen während des Lernens abläuft (active processing assumption).

Für das Multimedia-Lernen gibt es fünf kognitive Prozesse:

  1. Relevante Wörter aus einem Text oder einem literarischen Text entnehmen.
  2. Relevante (Ab)bilder aus den präsentierten Illustrationen entnehmen.
  3. Die markierten Wörter in Form einer kohärenten verbalen Repräsentation darstellen.
  4. Gewählte (Ab)bilder in einer kohärenten piktoralen Repräsentation organisieren
  5. Piktorale sowie verbale Repräsentation in Zusammenhang mit dem Vorwissen bringen. (vgl. Mayer 2008, S. 33)

Dual-channel Assumption: Es gibt zwei Wege, um die Unterschiede der Arbeitsweise der Kanäle zu beschreiben.

  1. presentation mode: ein Kanal verarbeitet piktorales Material, der andere Kanal nonverbale Geräusche.
  2. sensory modality: fokussiert, ob Lerner zunächst den Prozess der Informationsverarbeitung durch Augen oder Ohren starten (vgl. Mayer 2008, S. 34). Der presentation mode fokussiert das reine Format des Stimulus, während die sensory modality den Stimulus so, wie er im Arbeitsgedächtnis ankommt bearbeitet (auditiv oder visuell) (vgl. Mayer 2008, S. 34).

Limited capacity Assumption: Menschen können nur eine endliche Anzahl von Information in einem Kanal zu einem bestimmten Zeitpunkt speichern (vgl. Mayer 2008, S. 35).

For example, if an illustration or animation of a tire pump is presented, the learner may be able to focus on building mental images of the handle going down, the inlet valve opening, and air moving into the cylinder. When a narration is presented the learner is able to hold only a few words in working memory at any one time, reflection portions of the presented text rather than a verbatim recording. (Mayer 2008, S. 35).

Active processing Assumption: Diese Beschränkung des Arbeitsgedächtnisses zwingt den Lerner dazu, eine Entscheidung zu treffen, welche Information er aufnehmen will, wie stark Verbindungen zwischen den ausgewählten Teilen gezogen werden sollen und wie dies mit dem Vorwissen verknüpft werden kann (vgl. Mayer 2008, S. 36). Wenn also das Ergebnis des aktiven Lernens die Konstruktion von kohärenten mentalen Repräsentationen ist, ist es notwendig zu wissen, wie Wissen prozessiert wird (ebd.). Das präsentierte Material sollte eine kohärente Struktur haben. Die Botschaft sollte dem Lerner bei der Bildung seiner Strukturen helfen (model building). Drei Prozesse sind hierbei essentiell:

  1. Selektion von relevantem Material.
  2. Organisieren des selektierten Materials.
  3. Integrieren des vorhandenen Materials in das Vorwissen

Tabelle 1: Lernprozess des »model-building« nach Mayer 2008, S. 41

Prozess Beschreibung
Wörter entnehmen Der Lerner achtet auf relevante Wörter in einer Multimedia-Message und kreiert Sounds in seinem Arbeitsgedächtnis.
Bilder entnehmen Der Lerner achtet auf relevante Bilder in einer Multimedia-Message und kreiert (Ab-)Bilder in seinem Arbeitsgedächtnis.
Wörter organisieren Der Lerner verknüpft selektierte Wörter, um ein kohärentes verbales Modell in seinem Arbeitsgedächtnis herzustellen.
Bilder organisieren Der Lerner verknüpft selektierte Bilder in seinem Arbeitsgedächtnis, um ein piktorales Modell in seinem Arbeitsgedächtnis herzustellen.
Integrieren Der Lerner verknüpft verbale und piktorale Modell mit dem Vorwissen.

Es ist hinreichend empirisch belegt worden, dass es signifikante Unterschiede der Präsentation von Informationen in Form eines Textes oder einer Text-Bild Relation gibt (Brünken/Leutner 2008, S. 554). Die Text-Bild Relation ist Teil einer »dual kodierten mentalen Repräsentation des dargestellten Sachverhaltes« (ebd.). Empirische Studien beweisen, dass diese dual-kodierte Informationsrepräsentation einer einfach kodierten überlegen ist. Ebenso konnte gezeigt werden, dass bei der Präsentation von Text und Bild eine audiovisuelle einer nur visuellen Präsentation überlegen ist (ebd., S. 554). Jedoch muss man hier auch die »besonderen Anforderungen, die der Wissenserwerb mit solchen Informationen an den Lerner stellt« (ebd.), beachten – der Lerner muss die verschiedenen Repräsentationsformen verstehen und darüber hinaus die Kohärenzbildung vornehmen können (vgl. ebd., S. 555). Das Problem beim Lernen mit Medien ist vor allem das »Verhältnis von Anforderungen an die Informationsverarbeitungskapazität durch die mediale Informationsrepräsentation« (ebd., S. 557). Die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses hat zur Folge, dass »zu einem bestimmten Zeitpunkt […] nur eine bestimmte Menge an Informationen gleichzeitig verarbeitet werden [kann]« (Brünken/Leutner 2008, S. 556 f.). Für einen erfolgreichen Lernprozess ist entscheidend, wie die – auf Seiten des Lerners – verfügbare Verarbeitungskapazität genutzt wird. Um dies zu beurteilen ist es zunächst erforderlich, mögliche Quellen kognitiver Belastung beim Lernen vorab zu antizipieren (Brünken/Leutner 2008, S. 557):

  1. intrinsic load: Die zu lernenden Inhalte selbst unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Komplexität. Hier besteht ein enger Zusammenhang zum Vorwissen des Lerners
  2. extraneous load: »Die Art und Weise der Informationsrepräsentation« ist besonders interessant im Hinblick auf die »Gestaltung von Medien […], geht man doch hier davon aus, dass dieselben Lehrinhalte bei unterschiedlicher Präsentationsart in unterschiedlichem Ausmaß kognitive Belastung verursachen«
  3. germane load (Prozess der Informationsverarbeitung): »umfasst alle Prozesse der mentalen Repräsentation der zu lernenden Inhalte«

Zusammengenommen wirken der intrinsic load, der extraneous load und der germane load additiv. Sie haben jedoch eine unterschiedliche »Beziehung zur Effizienz des Lernprozesses« (Brünken/Leutner 2008, S. 557). Während der intrinsic load zwar »notwendig aber instruktional nicht wirklich beeinflussbar« ist, beeinflusst der extraneous load den »Wissenserwerb negativ« – der germane load »hingegen positiv« (ebd.). Daraus lässt sich schließen, dass die kognitiven Anforderungen an die genannten kognitiven Bereiche nicht die Kapazitäten übersteigen dürfen (vgl. ebd.). Die Wahl und Präsentation des Materials sowie die Aufgabenstellungen sollten also sehr deutlich auf diese Prozesse abgestimmt sein, um ein aktives Lernen zu ermöglichen. Ganz einig ist sich die Wissenschaft über die exakten Auswirkungen medialer Repräsentationsformen nicht. Da wir als Lehrpersonen jedoch einen unmittelbaren Handlungszwang verspüren, müssen einige Dinge klar sein:

Die Aufgabe der Lehrperson besteht bei der Aufbereitung crossmedialen Lernmaterials darin …
  • individuelle Eingangsvoraussetzungen und Vorwissen zu diagnostizieren.
  • eine sinnvolle didaktische Aufbereitung der Inhalte zu gewährleisten.
  • zu eruieren, wo in der Konzeption der Lerneinheit Überlastungen des Arbeitsgedächtnisses auftreten könnten.
  • zu überlegen, wie Lernsettings über unterschiedliche Lernwege so verändert werden können, dass eine Überforderungssituation minimiert wird.
  • den Lerner durch gute Aufgabenstellungen so zu begleiten, dass er selbstständig in der Lage ist, eine Kohärenzbildung hinsichtlich der Medienverbünde vorzunehmen.

Quellen:

  • Dollase, Rainer. Gruppen im Elementarbereich, Kohlhammer Verlag: 2015
  • Hartmann, Simon und Dirk Purz. Unterrichten in der digitalen Welt. V&R: 1. Aufl. 2018.
  • Mayer, Richard E. Learning and instruction. Pearson Merrill Prentice Hall: 2008.